Gegenseitige Hilfe – Was ist das und warum tun wir das?
Für viele heißt Gewerkschaft nur Tarifverträge, manchmal Streik und Bratwurst am 1. Mai – für uns heißt Gewerkschaft jedoch mehr als das. Im Januar etwa halfen wir gemeinsam mit einem Freund unserer Gruppe einem unserer Mitglieder beim Renovieren. Wir verlegten Laminat und entsorgten Sperrmüll und alte Elektronik. Im Februar wiederum unterstützten Aktive und Freunde unserer Gruppe eine Familie einer alleinerziehenden Person mit geringem Einkommen beim Umzug. Diese hatte wegen bedrängter Verhältnisse schon länger versucht, umzuziehen. Nach einiger Zeit ergab sich eine Gelegenheit, jedoch musste zunächst auf die Entscheidung des Amtes gewartet werden. Als diese Entscheidung dann endlich fiel, musste alles auf einmal sehr schnell gehen, woran der Umzug fast gescheitert wäre – wenn nicht die Helfenden gewesen wären. Hier könnte die Meldung zu Ende sein, doch die Frage steht im Raum, warum GewerkschafterInnen überhaupt so etwas tun? Tatsächlich bedeutet all dies für uns mehr als Freundschaftsdienste oder Nachbarschaftshilfe. Das was wir „Gegenseitige Hilfe“ nennen ist für uns vielmehr eine Form von Politik, die wir organisiert betreiben.
Pjotr Kropotkin: Ursprung der Theorie der Gegenseitigen Hilfe
Was heißt „Gegenseitige Hilfe“? Für Pjotr Kropotkin, einen berühmten russischen Anarchisten, Geografen und Schriftsteller, ist sie ein Prinzip der Natur. Aus diesem Prinzip geht in Kropotkins Auffassung die menschliche Zivilisation selbst hervor. Er wandte sich dabei gegen die Dogmen des sogenannten „Sozialdarwinismus“. Diese waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet und bei Rassisten oder Marktliberalen bestimmen sie bis heute die Debatten. Der Sozialdarwinismus behauptet, dass die Entwicklung der Arten aus einem ewigen Kampf ums Überleben hervorgeht, und dass für die menschliche Gesellschaft dasselbe gilt: Kulturen, „Rassen“ und Nationen befänden sich im ständigen Ausrottungskampf gegeneinander. Hierbei würde sich stets der „Beste“ durchsetzen. Dabei meinen die entsprechenden Theoretiker meist ihre eigene Gruppe. Das Resultat dieses „Recht des Stärkeren“ hielten sie für Fortschritt, was z. B. die eugenischen Morde an Behinderten durch die Nationalsozialisten rechtfertigte.
Kropotkin stellte dagegen fest: Arten überleben und entwickeln sich nicht, indem sie permanent gegeneinander kämpfen, sondern indem sie im Gegenteil aufreibende Konflikte vermeiden oder sogar zum gegenseitigen Nutzen kooperieren. Der größte Teil der Biosphäre unserer Welt besteht, wie wir heute wissen, aus Lebensformen, die in symbiotischen Beziehungen zueinander existieren. Ein Beispiel hierfür sind alle auf Bestäubung angewiesenen Pflanzen und die Insekten, die diese Bestäubung durchführen und im Gegenzug Nahrung erhalten. Kropotkin war einer der ersten, der diese Formen der Kooperation zwischen Lebensformen als zentrales Element der Evolution begriff. Auch die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ist in Kropotkins Auffassung von diesem Prinzip der gegenseitigen Hilfe geprägt: Von den ursprünglichen Familienclans der Vorzeit über die Stämme der Antike und die Nationen der Neuzeit war die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Ausweitung der Gegenseitigen Hilfe. Das Prinzip der Solidarität weitete sich also von anfangs kleinen auf immer größere Personengruppen aus. Die internationale Arbeiterbewegung repräsentierte für Kropotkin den Schritt dazu, diese Solidarität auf die Menschheit überhaupt auszudehnen. Der Sozialismus – zu dem auch die anarchosyndikalistische Gewerkschaftsbewegung gehört – kann also als die Bewegung aufgefasst werden, durch die sich das Prinzip der Gegenseitigen Hilfe in der Menschheitsgeschichte durchsetzt.
Das Problem dieser Auffassung ist natürlich, dass Kropotkin, beeinflusst von dem naturwissenschaftlichen Denken seiner Zeit, glaubte, die Geschichte verlaufe nach einem natürlichen bzw. biologischen Entwicklungsprinzip, vom Niedrigen zum Hohen. Doch weder Natur noch Gesellschaft haben eine Richtung, in die sie sich zwangsläufig entwickeln. Die Natur lässt Egoismus und Ausbeutung genauso zu wie Altruismus und Solidarität. Betrachtet man die Geschichte des 20. Jahrhunderts – insbesondere den Holocaust – erscheint es außerdem als besonders fragwürdig, dass wir uns als Menschheit wirklich auf einem gradlinigen Fortschrittsweg befinden sollten. Es gibt daher keine Politik, die man mit Naturprinzipien oder historischen Gesetzen rechtfertigen könnte.
Gewerkschaftliche Gegenseitige Hilfe als Politik des Alltags
Aber gerade weil es kein übergreifendes historisches oder natürliches Prinzip gibt, das uns zu diesem oder jenem Verhalten verpflichtet, ist Gegenseitige Hilfe eine politische Frage. Denn offensichtlich können wir als Menschen unterschiedliche Beziehungen eingehen: Wir können uns als Konkurrenten oder als Partner (wir nennen das: GenossInnen) begreifen, uns gegenseitig als Mittel zum eigenen Vorteil verstehen oder einen gemeinsamen Vorteil schaffen. Gegenseitige Hilfe heißt also nicht einfach Altruismus, Nächstenliebe oder Aufopferung, sie bedeutet auch nicht einfach den Tausch von Gefälligkeiten, denn es gibt bei ihr kein Aufrechnen, kein “quid pro quo”, sondern dass wir unsere Ziele gemeinschaftlich verfolgen. Oder anders ausgedrückt: dass ich dein Anliegen, deine Bedürfnisse, ein Stück weit zu meinen eigenen mache – und umgekehrt. Im Gegensatz zum Konkurrenzprinzip der Marktwirtschaft, das uns vereinzelt, beruht Gegenseitige Hilfe auf dem Gedanken, dass wir alle mehr gewinnen und besser leben, wenn wir füreinander einstehen, als wenn jede und jeder einsam kämpft. Für uns als Gewerkschaft mit sozialrevolutionärer Ausrichtung steht Gegenseitige Hilfe jedoch nicht nur für dieses solidarische Prinzip selbst: Wir treten auch für die Verallgemeinerung dieses Prinzips ein, für seine Ausweitung über alle Grenzen hinweg. Und das nicht, weil die Natur es so will, sondern weil wir es uns als politisches Ziel setzen. Die gewerkschaftliche Organisation ist für uns ein Mittel der Gegenseitigen Hilfe in diesem Sinn. Ihre Zwecke und unsere entsprechenden Aktivitäten beschränken sich daher nicht auf Arbeitskämpfe, sondern richten sich potenziell auf alle Bereiche unseres Lebens.
Eins muss dabei klar sein: Gegenseitige Hilfe (oder auch die Gewerkschaft) ist noch nicht der Sozialismus, den wir anstreben. Sie ist, wie schon Kropotkin beschrieb, in einer gewissen Weise in jeder Gesellschaft vorhanden. Unter den vorherrschenden Bedingungen, in denen Wohnungen, Fabriken, Land, Kulturgüter von Netflix bis zum Theater und all das andere, was wir zum guten Leben brauchen, sich in den Händen von Personen befinden, die sie zu unserer Ausbeutung gebrauchen, kann die Rolle der Gegenseitigen Hilfe nur eine bescheidene sein: Sie beschränkt sich auf Umzüge, Renovierung, Kinderbetreuung, die Weitergabe von Wissen oder die Solidarität im Arbeitskampf. Gegenseitige Hilfe kann die soziale Revolution daher nicht ersetzen. Zugleich können wir uns aber auch keinen Sozialismus vorstellen, in dem Solidarität und Gegenseitige Hilfe nicht die vorherrschenden Prinzipien sind: Denn ein vermeintlich sozialistisches System, das jedoch nur seinen VerwalterInnen als Mittel ihrer jeweiligen individuellen Vorteile dient, stellt Ausbeutung und Elend nur unter eine neue Führung. Beispiele hierfür gibt es in der Geschichte wie in der Gegenwart genug – man denke etwa an das „kommunistische“ China.
Die Gegenseitige Hilfe, wie wir sie verstehen, ist also nicht der Sozialismus. Zugleich ist sie aber sowohl ein notwendiges Element desselben, wie auch etwas, das wir – zumindest in Ansätzen – bereits in unserer Gegenwart ausüben können. Gegenseitige Hilfe ist somit wie eine Brücke zu verstehen, die ein Ende in der Gegenwart und ein anderes in der Zukunft hat, die wir anstreben. Ziel und Mittel fallen hierbei zusammen, denn Gegenseitige Hilfe lässt sich nicht einfach per Gesetz einführen oder mit bloßem Zwang durchsetzen: Sie muss gelernt und geübt werden, setzt ein bestimmtes individuelles und kollektives Selbstverständnis voraus und ist somit auch eine Frage der Kultur. Indem wir als Basisgewerkschaft Gegenseitige Hilfe hier und jetzt ausüben, zeigen wir andere Formen uns in Beziehung zu setzen, lernen wir gemeinsam praktische Solidarität und werben wir für eine Gesellschaft, in der mein Wohl nicht dein Wohl ausschließt, sondern sich gegenseitig steigert. Zugleich verbessern wir ganz konkret im hier und jetzt unser Leben. Man kann und darf natürlich daran zweifeln, dass wir jemals in diese Zukunft gelangen, die wir anvisieren – wir sind keine Kirche und machen auch keine Versprechungen von schlagartigen gesellschaftlichen Veränderungen. Aber dass unsere Leben diese Verbesserung benötigen, ist, angesichts der verbreiteten Empfindung der Sinnlosigkeit des Arbeitslebens, von alltäglicher Machtlosigkeit, Einsamkeit und eben auch immer noch oft genug angesichts von materieller Armut, kaum zu bezweifeln.