Wenn vom Sozialismus gesprochen wird, dann geht es meist um materielle Angelegenheiten, um Lohn oder Produktionsmittel, wie Maschinen, Werkzeuge, Land, die wir vergesellschaften, also von einem privaten in ein gemeinschaftliches Gut umwandeln wollen. Doch wie sieht es mit dem sogenannten „kulturellen Erbe“ aus, mit den großen Kunstschätzen und Monumenten aus der Vergangenheit? Können wir als Arbeiter:innen sie uns aneignen wie einen Traktor? Oder müssen wir den ganzen alten Kram loswerden, wie die Denkmäler von Sklavenhändlern und Südstaatensoldaten, die aktuell etwa in den USA vom Sockel geholt werden, weil dieses Erbe für nichts anderes als für Herrschaft und Ausbeutung steht?
Für eine Basisgewerkschaft, die im Welterbe Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal angesiedelt ist, einem traditionell gegen Frankreich gerichteten Erinnerungsort des deutschen Nationalismus, scheinen diese Fragen besonders wichtig zu sein. Aus dieser Problemlage heraus haben wir beschlossen, uns kritisch mit dem uns umgebenden Kulturerbe zu befassen und Möglichkeiten zu erkunden, wie man mit ihm umgehen kann. Am Sonntag, den 12. Juli erfolgte unsere erste Intervention: Die Sprengung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim, eines antifranzösischen Denkmals, dass den preußischen Sieg über Frankreich, Militarismus und den deutschen Nationalismus verherrlicht.
Diese nur symbolische Sprengung hatte nicht den Zweck, etwas zu zerstören, sie sollte vielmehr etwas sichtbar machen und hierdurch die Bedeutung des Denkmals verändern: Ziel war, daran zu erinnern, wie am 28. September 1883 eine Gruppe von Anarchisten beinahe die Herrschaft der Hohenzollern durch ein Sprengstoffattentat beendet hätten. Wir reisten, wie die historischen Anarchisten, über Assmannshausen an und wanderten über die Weinberge zum Denkmal.
Unterwegs fand ein historisches Gespräch statt – über den Attentatsversuch und die Strategie der „Propaganda der Tat“, die ihm zugrunde lag. Wir sprachen außerdem darüber, wie das Scheitern dieser Strategie dazu führte, dass die neuere Strömung des Syndikalismus, zu der auch die FAU gehört, die individuelle, verschwörerische „Propaganda der Tat“ durch die Ideen der kollektiven „direkten Aktion“ und der gewerkschaftlichen Massenbewegung ersetzte.
Am Denkmal angekommen stärkten wir uns mit französischem Wein und Käse und gingen nach einem Redebeitrag zur symbolischen Sprengung über. Es wurde vorgeschlagen, dies von nun an jährlich zu tun. So oder so – weitere Interventionen werden folgen.
Anbei die Rede:
Redebeitrag anlässlich der 1. Sprengung der „Germania“ am 12. Juli 2020
Liebe Genossinnen und Genossen,
wir befinden uns hier und heute im „Welterbe Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal“ und am „Welterbe Niederwalddenkmal“. Das alles sind offizielle Titel, verliehen und verwaltet von der UNESCO. Aber was soll das eigentlich sein, „Welterbe“ oder „Kulturerbe“ und wem gehört es?
Wenn man von „Kulturerbe“ spricht, dann meint man bestimmte Dinge, Bauwerke, Monumente und Orte, die möglichst bis in alle Ewigkeit erhalten werden sollen. Dafür, welche Sachen Kulturerbe und daher erhaltenswert sind, nennt die UNESCO ein paar Kriterien:
Unter Kulturerbe fallen u.a. Güter (also Monumente, Gebäude etc.) die „ein einzigartiges Zeugnis einer kulturellen Tradition darstellen“, die „einen oder mehrere bedeutsame Abschnitte der Geschichte der Menschheit versinnbildlichen“ oder „mit Ideen oder Glaubensbekenntnissen von außergewöhnlicher universeller Bedeutung verknüpft sind“.
Wenn wir uns hier aber nun umblicken, muss man sich die Frage stellen: Für welche Tradition, für welche Geschichte, für welche Ideen und Werte steht ein Ort wie dieser? Und sind sie wirklich universell, also können wir sie alle teilen?
Befassen wir uns erst mal mit dem Mittelrheintal, das bis oben hin vollgepackt ist mit original mittelalterlichen Burgen aus dem 19. Jahrhundert und wo selbst die Eingänge der Zugtunnel Erkerchen und Türmchen haben.
Wofür steht eine Burg? Sie ist ein Herrschaftsinstrument, von dem aus Adelige ihre Bauern ausgepresst haben. Die Rheinburgen sind Monumente für die großen und kleinen Familien von Tyrannen, die auch einen Teil des Flusses für sich haben wollten.
Wenn man es so sieht, ist eine Burgruine, die romantisch zerbröckelt, ein schöner Anblick: Sie ist ein Zeichen für das Ende der Adelsherrschaft. Daher kann es auch kein gutes Zeichen sein, wenn hunderte Jahre nach Ende des Mittelalters auf einmal reiche Leute auftauchen, und anfangen die Burgen wiederherzustellen, wie es sich ja hier im 19. Jahrhundert ereignete.
Was war passiert? Romantische Nationalisten hatten, wie später die Nazis, das Mittelalter für sich entdeckt. Sie blickten in die Zeit zurück und in ihrem vernebelten Blick sahen sie die Utopie des Nationalstaates, den sie wollten: Eine vermeintlich harmonische, kulturell und ethnisch einheitliche Welt, in der die einen arbeiten und die anderen herrschen, weil es ja in ihrem Blute liegt und wo niemand jemals die Ordnung infrage stellen würde. Das Mittelalter wurde so zum Modell für die Deutsche Nation. Das wirkliche Mittelalter war natürlich anders – aber das spielt keine Rolle, es geht hier um Phantasien, um Träume die für uns nur Alpträume sein können.
Es ist diese Vision, die sich im Mittelrheintal mit all seinem Burgenkitsch materialisiert hat, als es im vorletzten Jahrhundert von romantischen Nationalisten kolonisiert wurde. Ihr Blut-und-Boden-Disneyland ist jetzt Kultur- bzw. Welterbe und soll auf immer in Formaldehyd bzw. regionaltypisch in Weinbrand konserviert werden, damit man die völkische Romantik Horden berauschter Touristen in verdünnter Dosis verabreichen kann. Statt Geschichte werden so Alpträume bewahrt, die nur darauf warten, dass genug autoritäre Charaktere sie wieder zu träumen beginnen. Wer im Mittelrheintal lebt, wohnt auf einem Blindgänger, der jeden Augenblick hochgehen kann.
Und was ist mit dem Niederwalddenkmal? Hier muss man nichts interpretieren, denn das Monument will selbst erklären, wofür es hier steht. Man kann lesen: „Zum Andenken an die einmütige, siegreiche Erhebung des Deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.“
Es geht hier natürlich um die Gründung des deutschen Nationalstaats vor etwa 150 Jahren durch die preußische Dynastie der Hohenzoller. Ein gewonnener Krieg gegen Frankreich gab den Preußen die Macht, die sie brauchten, um verschiedene Staaten wie Sachsen oder Bayern in einem als Deutschland titulierten Großpreußen zu vereinen.
Das Ereignis ist real und sein Ergebnis auch. Aber fast jedes Wort, mit dem es hier beschrieben wird, ist eine in Stein gehauene Lüge: Der Krieg war keine Erhebung, sondern wurde von Bismarck kalkuliert provoziert. Auch das Volk spielte in der Angelegenheit keine Rolle – außer als Kanonenfutter: Bismark und Willhelm I. gründeten das Reich von oben und aus der Höhe eines Leichenberges von fast 200.000 Personen, die für ihre großdeutschen Träume sterben mussten. Von einer Wiederaufrichtung des sogenannten „Deutschen Reichs“ des Mittelalters kann ebenfalls nicht die Rede sein, denn das „Alte Reich“ war weder eine Nation, noch ein Staat, noch ein Nationalstaat. Und auch einvernehmlich war die Gründung dieses Staates nicht, der schon bald damit begann, Sozialisten und andere, die nicht zur großen nationalen Idee passten, politisch zu verfolgen.
Für welche Werte steht also das Niederwalddenkmal? Es bedeutet die Glorifizierung von Militarismus, Nationalismus, von Autoritarismus und Gehorsam. Dieses Denkmal ist ein Monument der Herrschaft und soll Herrschaft verewigen. Es ist kein Wunder, dass Hitler 1933 hier sprach, erneut um Hass gegen Frankreich zu predigen und Krieg vorzubereiten. Dies allein würde reichen, um diesen Ort als Kulturerbe der Menschheit zu disqualifizieren.
Nun gibt es im Augenblick eine weltweite Bewegung, Monumente wie dieses zu beseitigen. Das wäre auch in diesem Fall nicht unangebracht. Es gibt aber noch eine andere Art und Weise, wie man mit fragwürdigem Kulturerbe umgehen kann. Denn: wo Herrschaft ausgeübt wird, gibt es Widerstand, Macht heißt auch Gegenmacht.
Dieser Widerstand ist an Denkmälern wie diesem nicht direkt sichtbar. Er kann aber sichtbar gemacht werden, indem wir das aufzeigen und benennen, was zur Geschichte dieser Denkmäler gehört, worüber sie aber selbst schweigen. Dazu gehören etwa die fast 200.000 Toten des Deutsch-Französischen Krieges sowie die Millionen weiteren Opfer des deutschen Nationalismus. Wenn man sich diese Zahlen vergegenwärtigt, sieht man, dass im Denkmal ein gewaltiges Loch klafft. Wenn man hineinschaut, erkennt man eine neue Bedeutung und das Denkmal wird zum Mahnmal.
Doch es gibt noch andere historische Ereignisse, die mit diesem Ort in Zusammenhang stehen und die uns gestatten, nicht nur Opfer, sondern auch Widerstand sichtbar zu machen. Indem wir an sie erinnern, machen wir als Sozialist:innen, Syndikalist:innen und Anarchist:innen diesen Ort zu unserem Ort, zu einem Denkmal unserer Geschichte.
Da wäre zum Beispiel die Commune von Paris, der erste Versuch einer sozialistischen Revolution in Europa. Die Commune entstand während des von Bismarck provozierten Deutsch-Französischen Krieges. Obwohl sie bald niedergeschlagen wurde, ist sie seitdem ein wichtiges Vorbild für Anarchist_innen und Kommunist_innen. Aus Angst vor einer neuen Commune setzte Bismarck die Sozialistengesetze durch, mit denen die Arbeiterbewegung unterdrückt wurde.
Aus dieser Unterdrückung ging schließlich ein Ereignis hervor, das noch viel enger mit diesem Ort verbunden ist: am 28. September 1883 versuchten Anarchisten bei der Einweihung dieses Monumentes ein Sprengstoffattentat gegen den Kaiser und sein Gefolge. Dieses Attentat war erfolglos, die Zündschnur erlosch und die Attentäter wurden verraten.
Dennoch: In dem Moment, als Willhelm I. sich und seinem großpreußischen Deutschland ein Denkmal setzen wollte, zeigten ein paar Anarchisten die Lüge der Einheit und Einvernehmlichkeit auf, die dort oben in Stein gehauen ist. Wir mögen heute unsere Ziele mit anderen Methoden verfolgen, trotzdem ist dieser Widerspruch gegen die Monarchie, gegen die Unterdrückung der Arbeiterklasse und gegen den Nationalismus es wert, dass wir an ihn gedenken.
Wir wollen diesen Ort zum Gedenkort des Kampfes gegen Herrschaft und Ausbeutung machen. Wer die Germania vom Zug aus sieht, soll nicht an Bismarck, nicht an Deutschland, sondern an den Freiheitswillen derer denken, die hier um ein Haar die Herrschaft der Hohenzollern beendet hätten. Deshalb weihen wir hier und heute ein neues Denkmal ein, ein Denkmal für Rupsch und Küchler und Reinsdorf und all die anderen Anarchisten, die dem Autoritarismus die Stirn boten. Zu diesem Zweck knüpfen wir dort an, wo unsere Vorgänger scheiterten, indem wir dieses Denkmal sprengen, wenn auch nur symbolisch und ganz ohne Dynamit. Lasst uns die Deutschtümler, die Fans des Obrigkeitsstaats hier und jetzt schon einmal kulturell enteignen. Ich schlage vor, dies jedes Jahr tun, bis es eines Tages nicht mehr nötig sein wird, weil die Herrschaft des Menschen über den Menschen selbst der Vergangenheit angehört.